Belarus: ARD kann wieder aus Minsk berichten

Jo Angerer | Screenshot: Das Erste/ARD

Wer:
* Jo Angerer, Fernseh-Korrespondent, ARD Moskau, zur Zeit Minsk
* Daniel Bouhs, Freier Medienjournalist
* Jörg Wagner, Freier Medienjournalist
Was: Skypegespräch über seinen Einsatz im Berichtsgebiet Belarus
Wann: rec.: 12.09.2020/ 12:00 Uhr, veröffentlicht im radioeins-Medienmagazin am 12.09.2020, 18:11 Uhr und gekürzt am 13.09.2020, 10:44/17:44/22:44 Uhr im rbb Inforadio

(wörtliches Transkript, Hörverständnisfehler vorbehalten)

[00:00:00]
Jörg Wagner: Wochenlang beherrschte Belarus die Nachrichtenlage auch in Deutschland. Die täglichen Demonstrationen richteten sich anfangs gegen das Wahlergebnis. 80,2 Prozent, so die offiziellen Angaben der Wahlkommission, votierten für Amtsinhaber Lukaschenko. Das spiegelt jedoch nicht das Meinungsbild von Umfragen wider. Aus den Protesten gegen Wahlbetrug wurde ein grundsätzliches Aufbegehren, verschärft durch die Corona-Beschränkungen, gegen den Staat. Seit Montag ist der Moskauer ARD-Korrespondent Jo Angerer wieder in Minsk. Zunächst: Herr Angerer, was führte zur Unterbrechung Ihrer Berichterstattung vor Ort?

[00:00:34]
Jo Angerer: Na, das war ganz einfach die Tatsache, dass man unser Kamerateam festgenommen hatte bei einem ganz normalen Routinedreh. Man muss sich vorstellen, das Team war auf der Straße, hat ein paar Bilder gedreht. Jeder in diesem Team hatte eine gültige Akkreditierung. Das ist also sozusagen die behördliche Erlaubnis, dass man journalistisch arbeiten kann. Es war eigentlich alles in Ordnung. Das Team wurde festgenommen, mitgenommen auf die Polizei, angeblich zur Überprüfung der Papiere. Herausgekommen ist dann, dass man ihnen die Akkreditierung entzogen hat. Die hatten anderthalb Stunden Zeit, mussten Minsk verlassen und dürfen jetzt fünf Jahre lang nicht mehr einreisen nach Belarus. Und unser belarussischer Producer, der Kollege, der hier also Vorbereitungen macht, der hat ein Strafverfahren am Hals. Und das war also gegen alle internationalen Regeln eigentlich. Und ich war dann quasi allein zu Hause als Fernsehkorrespondent, ohne Kamerateam, ohne Unterstützung, bin dann zurück nach Deutschland gegangen. Da haben wir unverzüglich damit begonnen, ein neues Team aufzubauen. Und seit Montag bin ich wieder hier und berichte.

[00:01:36]
Daniel Bouhs: Es wurden ja diverse Journalisten und Kamerateams des Landes verwiesen, nicht nur die Crew Ihres Moskauer Studios, sondern auch von der BBC und französischen Medien zum Beispiel. Das Risiko, weggeschickt oder auch im Zweifel einkassiert zu werden, ist also längst Realität. Wir alle kennen – auch dank Ihrer Arbeit – die leider unschönen Bilder, dass Oppositionelle auch verprügelt werden. Stichwort Pressefreiheit: Wie können Sie, wie frei vor allen Dingen, derzeit auch arbeiten?

[00:02:04]
Jo Angerer: Na ja, ich als deutscher Korrespondent mit Akkreditierung kann mich relativ frei bewegen. Es ist offensichtlich hier die Taktik, dass man so wenig Berichterstattung wie möglich haben möchte und schon gar nicht den internationalen Medien, dass man die führenden Oppositionellen festnimmt, verhaftet, vor Gericht stellt und versucht, auf diese Art und Weise den Protest zu bekämpfen. Ich glaube nur, es wird langfristig nicht gelingen. Die Protestbewegung ist so stark hier. Und auch fr morgen, am Sonntag, ist wieder eine Großveranstaltung geplant.

[00:02:36]
Jörg Wagner: Sie haben möglicherweise privilegierte Arbeitsbedingungen. Die deutsche Staatsbürgerschaft, wissen wir seit Deniz Yücel, hilft nicht immer, aber vielleicht ja doch in Ihrem Fall. Was wissen Sie denn von Ihren Medienkolleginnen und Kollegen in Belarus? Wie sind deren Arbeitsbedingungen?

[00:02:51]
Jo Angerer: Ja, deren Arbeitsbedingungen sind natürlich deutlich schlechter. Sie sind immer bedroht davon, am Rande der Demonstration festgenommen zu werden. Sie sind immer von Anklagen bedroht natürlich. Die beliebte Anklage ist, man hat an einer illegalen Demonstration als Teilnehmer teilgenommen und eben nicht als Journalist und berichtet darüber. Also die belarussischen Kollegen, teilweise auch die russischen Kollegen, die hier sind, sind deutlich gefährdeter wie wir Korrespondenten aus, sage ich jetzt mal, EU-Staaten oder Amerika oder sonst wo.

[00:03:20]
Daniel Bouhs: Wir wollen auch nicht heroisieen hier, aber Russland ist ja bisweilen schon kein angenehmes Berichtsgebiet. Jetzt Belarus. Hatten Sie Zweifel, ob es denn gut ist, ob es klug ist, erneut einzureisen? Einige Sender haben ja gar keine Korrespondenten vor Ort.

[00:03:34]
Jo Angerer: Na ja, es war eigentlich keine Frage. Also, es ist mein Beruf einfach und das ist der Ort, wo man jetzt sein muss und wo man jetzt berichten muss. Insofern war es gar keine Frage, ob ich da wieder reinkomme. Die Frage ist nur, wie schnell gelingt es uns, ein Team zustande zu bringen, das hier wieder ist, weil wir brauchen ja relativ viele Leute. Ich bin sozusagen jetzt hier der Repräsentant, der auf dem Bildschirm ist, aber wir haben ganz viele Leute hier in Minsk, die mitarbeiten: unsere Kamerafrau, Techniker, Producer. Wir haben das gesamte Studio Moskau natürlich auch, was im Hintergrund von Anbeginn arbeitet auch. Also, es ist ein großes Team, was hier arbeitet in der Berichterstattung. Ich bin halt der Kopf, der dann auf dem Bildschirm zu sehen ist. War für mich keine Frage. Ich gehe zurück nach Minsk, weil da mein Job im Moment ist. Und seit Montag bin ich auch wieder da.

[00:04:19]
Jörg Wagner: Sie werden auch heute wieder, glaube ich, für die „Tagesschau“ unterwegs sein. Können Sie denn mit allen Menschen vor Ort reden? Wollen auch alle in westliche Medien?

[00:04:29]
Jo Angerer: Also überraschend viele. Überraschend viele wollen – also sie drängen sich nicht auf, man fragt sie natürlich, ob man sie interviewen darf, aber die allermeisten sagen „Ja, atürlich sage ich, warum ich hier bin, warum ich hier auf die Demonstrationen gehe, was der Hintergrund ist, warum ich mich hier engagiere“. Ich glaube, über dieses Gemeinschaftsgefühl auf der Straße haben die Leute das Gefühl bekommen, sie wollen jetzt was sagen, sie wollen auch zu ihrer Situation was sagen. Also, wir finden überraschend viele Menschen, die natürlich etwas sagen wollen.

[00:04:58]
Daniel Bouhs: Also, der Schutz auch von Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern, die möglicherweise aus belarussischer Perspektive beobachtet und möglicherweise sanktioniert werden könnten, ist für sie kein Thema? In China berichten die Korrespondenten ja auch, dass sie da vorsichtiger geworden sind, weil es ja doch gelegentlich dann Vorfälle gibt, wenn jemand sehr stark auch nach draußen geht, auch in westlichen Medien, dass derjenige dann doch vom sozusagen chinesischen Mob – sag ich jetzt mal Anführungszeichen – dann auch kassiert wird.

[00:05:26]
Jo Angerer: Na ja, der Schutz ist uns natürlich schon wichtig. Also, wir machen keine unbemerkten Groß- und Nahaufnahmen von Menschen bzw. fragen vorher, ob es ihnen recht ist, ob wir das machen können, und fragen natürlich auch ganz offen die Leute, ob sie uns Interviews geben wollen. Und viele gehen ja auch gerade auf die Demonstrationen, weil sie ihr Gesicht zeigen wollen in diesem Protest drin. Also wir beachten natürlich die ganz normalen journalistischen Regeln, die es gibt, also dass wir keinen bloßstellen, dass wir keinen unbemerkt in Nah- oder Großaufnahmen zeigen. Aber die Leute wollen reden. Die Leute wollen offen auftreten. Und die Leute wollen das auch offen sagen, was sie zu sagen haben. Das ist unser Eindruck hier.

[00:06:07]
Daniel Bouhs: Vielleicht abschließend: Mit welcher Aufenthaltsdauer planen Sie denn, wenn nichts dazwischen kommt?

[00:06:12]
Jo Angerer: Also, wir schauen uns die Situation an und fahren auf Sicht sozusagen. Wir werden entscheiden, wie lange wir dann letztendlich da bleiben. Genaue Termine gibt es da noch keine.

[00:06:20]
Daniel Bouhs: Jo Angerer, Korrespondent für die ARD, aktuell wieder in Minsk. Danke für Ihre Zeit und bleiben Sie natürlich sicher!

[00:06:27]
Jo Angerer: Das versuchen wir. Danke!

[00:06:28]
Jörg Wagner: Auf Wiederhören!

[00:06:28]
Jo Angerer: Auf Wiederhören.








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