Johannes Boie zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk

Johannes Boie | Foto: © Welt am Sonntag

Wer:
* Johannes Boie, Chefredakteur „Welt am Sonntag“
* Daniel Bouhs, Freier Medienjournalist
* Jörg Wagner, Freier Medienjournalist
Was: Schaltgespräch | Teil 2 zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk
Wann: 23.01.2021, 18:05-19:00 Uhr im radioeins-Medienmagazin und gekürzt am 24.01.2021, 10:44/17:44 Uhr im rbb Inforadio

(wörtliches Transkript, Hörverständnisfehler vorbehalten)

[00:00:00]
Daniel Bouhs: Und wir reden weiter mit Johannes Boie. Seit knapp zwei Jahren Chefredakteur der „Welt am Sonntag“. Und wir haben uns auch verabredet, um über uns zu reden, also den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Viele Zeitungsmacher stören sich vor allem an dem Onlineangebot der „Tagesschau“, vor allem an den vielen Texten, die dort erscheinen und an denen ich auch gelegentlich selbst mitschreibe. Der Transparenz wegen sei das erwähnt. Und man stört sich darüber nach dem Motto: Wenn es dort auch kostenfrei, da ja schon mit Rundfunkbeiträgen finanziert viel zu lesen gibt, warum sollte dann noch jemand auf die Seiten der Verlage gehen und für Journalismus bezahlen?

[00:00:37]
Jörg Wagner: Ja. Und tagesschau.de wird schon bald verändert, wie wir berichtet hatten am Anfang des Jahres: Es gibt ein neues Design. In einer öffentlich zugänglichen Beta-Version sieht man: weiter mit ausführlichen Texten. Im ersten Medienmagazin, wie gesagt, dieses Jahres hatten wir auch jemanden von ARD-aktuell, nämlich die Chefredakteurin Digitales, Juliane Leopold, hier zu Gast. Sie hat Texte auf tagesschau.de verteidigt:

[00:01:02] O-Ton
Juliane Leopold: Ich bin wirklich der Meinung, wir haben es hier zu tun mit einer Debatte, die ist aus der Zeit gefallen. Ja, die ARD ist ein leichter – ich sage jetzt mal – Feind für die Verlage, weil sie erreichbar erscheint, eben erreichbarer als ein Google und ein Facebook. Das sind ja die eigentlichen Probleme der Verlage, dass ganz, ganz viel Werbegeld gerade im Netz an große Player geht, die eben nicht die Säcklein der Verlage füllen, sondern andere. Und an diese Player kommt man aber nicht so leicht ran. Also, natürlich gibt’s da auch die entsprechenden Lobbying-Versuche, aber es fällt leichter, aufs öffentlich-rechtliche System sich zu stürzen. Und ich finde das wirklich gefährlich, weil es gibt eine Bestands- und Entwicklungsgarantie. Es gibt einen Auftrag. Gerade die Information ist der Kern des öffentlich-rechtlichen Auftrags. Und wo kommen wir hin, wenn wir an diesem Auftrag rütteln, weil wir kleinkrämerisch – ich sage jetzt mal – Buchstaben zählen auf einer Website.

[00:01:59]
Jörg Wagner: Wie sehen Sie das, Johannes Boie?

[00:02:04]
Johannes Boie: Tja, also, ich finde, dass Frau Leopold hier nicht Recht hat. Und ich finde auch ihre Ausdrucksweise da durchaus ein bisschen irritierend. Also, den Verlagen mitzuteilen, was ihre Probleme sind, das kann man natürlich machen. Sie mag das auch analysieren. Die Tatsache ist, dass die Art und Weise, wie der öffentlich-rechtliche Rundfunk ausgestattet ist und wie er diese Ausstattung einsetzt, aus meiner Sicht auf jeden Fall ein sehr ernsthaftes Problem für die Verlage ist. Wissen Sie, ich verstehe Frau Leopold. Sie möchte das beste Produkt für ihre Nutzer machen. Und unterm Strich sagt sie: Es ist mir egal, was die Regulierung besagt und was die Abmachungen besagen. Ich möchte einfach das beste Produkt machen. Das ergibt ja irgendwie Sinn. Aber es ist natürlich auch absurd, weil sie dabei völlig unterschlägt, dass sie gesetzlich garantiert Geld für ihre Projekte bekommt. Alle Nutzer, alle Zuschauer müssen bezahlen. Und das besonders Bemerkenswerte ist ja, dass auch alle bezahlen müssen, die den Journalismus von Frau Leopold nicht nutzen wollen. Es gibt übrigens sehr viele, die ihnen nicht nutzen wollen, weil er vielen eben doch unheimlich anbiedernd an die Regierung erscheint, dann und wann, lieber Daniel, sieh‘ es mir nach, dass ich das so sage…

[00:03:11]
Daniel Bouhs: … ich nehme es nicht persönlich, aber es ist schon eine klare Position.

[00:03:17]
Johannes Boie: Nur ein Beispiel dafür: Wenn man eben in der „Tagesschau“ über einen national bedeutsamen Mord nicht berichtet – Stichwort: Freiburg, Maria Ladenburger, ja? – und dann aber darüber berichtet, dass ein Pianist, Aktivist im Dannenröder Forst, heißt das glaube ich, auftritt, um dort die Fridays-for-Future-Leute zu bespielen, da verstehe ich schon, dass sich die Leute aufregen. Und auf diese Art und Weise, ja, weil eben jeder bezahlen muss, kommen acht Milliarden Euro zusammen. Das entspricht dem Verteidigungshaushalt der gesamten EU, also dem gesamten Geld von 27 Ländern für die gemeinsame Verteidigung. Das hat der öffentlich-rechtliche Rundfunk zur Verfügung. Und damit können natürlich Frau Leopold und ihre Kolleginnen und Kollegen wirklich jede private Konkurrenz erledigen.

[00:04:02]
Daniel Bouhs: Ich kann jetzt den konkreten Fall, den Du genannt hast, nicht wirklich einordnen, so aus dem Stand. Ich würde auch sagen: Auch beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk gibt es wie in vielen Medien solche und solche Tage – mal etwas pauschal ausgedrückt. Aber es gab ja, um auf die Texte und die Konkurrenz zu den Verlagen zurückzukommen, muss man sagen, 2018 eine große Einigung von Verlagen – Mathias Döpfner als Präsident des Verlegerverbandes war dabei – und Intendanten von ARD, ZDF und Deutschlandradio. Das Ergebnis war eine Überarbeitung der Onlinespielregeln für die Sender im Netz. Die Sender müssen demnach zwar Audio und Video nach vorne stellen, also Texte dürfen nicht dominieren, aber Texte sind ihnen auch nicht verboten. Im Gegenteil: Der Medienstaatsvertrag verpflichtet unter anderem die ARD zur Barrierefreiheit. Dazu gehören etwa auch Texte. Wie ließe sich dieses, man kann das ja vielleicht auch als Dilemma beschreiben, aus Deiner Sicht optimal lösen?

[00:04:55]
Johannes Boie: Ja, Du Daniel, grundsätzlich sind das alles Dilemmata. Und eins ist klar: [00:05:01]Barrierefreies Angebot ist ein Muss. Man darf natürlich keine Menschen, die kein Audio oder Video nutzen können, diskriminieren. Aber diese Diskriminierungsfreiheit darf natürlich keine Hintertür sein, dass im Grunde doch die ganzen Webseiten voller Texte sind. [12.3s] So sehe ich das. Und lass‘ mich nochmal ein Beispiel bringen für die direkte Konkurrenzsituation. Vor ein paar Tagen sprach ich mit einem Freund von mir, der in Westdeutschland wohnt, und der sagte „Du, bei uns war ein Erdbeben im Raum Aachen“. Dann gehe ich zu Google News – und das macht es hoffentlich anschaulich – und gebe ein „Erdbeben Aachen“, weil ich mir das mal angucken wollte. Dann haut mir Google News drei Treffer raus: Einen von den „Aachener Nachrichten“, einen von der „Süddeutschen Zeitung“. Beides, wenn ich mich richtig erinnere, Pay-Geschichten, also wofür ich hätte bezahlen müssen. Und daneben dann eben noch der WDR, der mir das gratis anbietet. War für mich natürlich als Nutzer bequem: Ich musste nicht extra bezahlen. Aber was machen die „Aachener Nachrichten“? Und wir brauchen doch den Regionaljournalismus. Wir brauchen doch auch die private Medienvielfalt. Die haben keine Chance, solange der Markt so verzerrt ist.

[00:05:58]
Jörg Wagner: Also, ich würde nicht sagen, dass der WDR das gratis angeboten hat, denn das ist ja im Rundfunkbeitrag mit drin. Das haben ja alle bezahlt und noch nicht einmal alle, sondern nur jeder Haushalt und jede Betriebsstätte. Also, da sind ja auch Menschen, die nicht bezahlen, sozusagen im Beifang mit diese Medien nutzen können. Aber ich verstehe das Problem. Und das sollte ja auch von der Medienpolitik geregelt werden und ist ja geregelt worden. Und jetzt gibt’s eben über den Begriff „Presseähnlichkeit“ unterschiedliche Auffassungen: Ab wann ist ein Internetangebot presseähnlich, wenn er sozusagen das Layout einer Zeitung imitiert? Also mit viel Text und so weiter, oder wird auch selbst die Presse im Netz nicht mehr presseähnlich, weil da auch viele Videos dabei sind? Zugegebenermaßen: Ist alles gestattet, ist alles gut. Aber woran orientiert man sich? Und da ist es wie bei vielen Rechtsfällen ein immer weiter Annähern der Rechtspositionen. Aber: Kollegen von Ihnen stören sich ja nicht nur an den Texten, sondern auch an den Social-Media-Aktivitäten der ARD insgesamt. Als die „Tagesschau“ mal wieder den ersten Platz unter den Nachrichtenangeboten belegte, twitterte ein Onlinejournalist der „Welt“ – nicht der „Welt am Sonntag“ – ich zitiere:

[00:06:59]

Jörg Wagner: „Der Erfolg der ‚Tagesschau‘-Kollegen ist verdient, basiert aber auf Wettbewerbsverzerrung. Kein Publisher verfügt annähernd über ein ähnliches Budget oder Personal.“ Das hatten Sie ja im Prinzip jetzt auch gerade gesagt. Ärgert Sie das auch, dass da wirklich mehr Geld – also, ich glaube, die „Tagesschau“ kriegt nicht acht Milliarden, das ist das ZDF, das Deutschlandradio, dazu gehört auch radioeins, der gesamte ARD-Hörfunk und so weiter und so fort – aber letzten Endes ist es ja auch so, dass die „Tagesschau“ zum Beispiel Tiktok ins Visier genommen hat, um junge Menschen zu erreichen, obwohl sich dort direkt noch kein Geld verdienen lässt.

[00:07:33]
Johannes Boie: Ja, weil sie es eben kann. Abgesehen davon finde ich es auch schwierig, auf Tiktok überhaupt zu sein, weil das ein chinesischer Staatskonzern ist und man nicht weiß, was mit den Daten passiert. Das aber nur am Rande. Wissen Sie, Daniel sagte ja vorhin, ich habe meine Karriere bei der „Süddeutschen“ begonnen. Es ist 15 Jahre her, da hab ich mal mit einer Kollegin damals in der „Süddeutschen“ eine Geschichte gemacht: Wie kommen Verlage und Medien durch die Digitalisierung? Sie ist zu einem kleinen Verlagshaus gefahren in München – natürlich nicht zum eigenen – und ich bin ins Hauptstadtstudio gefahren. Und das ist mir bis heute in Erinnerung. Da war das iPhone gerade relativ neu auf dem Markt. Und Uli Deppendorf, damals noch Hauptstadtstudio-Chef, hat mich wahnsinnig nett empfangen. Es war ein toller Termin. Es arbeiten ja auch so tolle Leute beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Und dann hat er mir noch verschiedene Studios und die Büros aller seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gezeigt. Und da lag bei jedem ein iPhone auf dem Tisch. Oft gar nicht ausgepackt. Und da hab ich ihn gefragt „Herr Deppendorf, was hat es denn damit aufsich?“. Und dann hat er gesagt „Ja, wissen Sie, wir haben einfach mal jedem Mitarbeiter ein iPhone gekauft, damit sich die Kolleginnen und Kollegen damit mal auseinandersetzen können und diese neue digitale Welt kennen können“. Und das ist natürlich nur eine Anekdote und sie ist auch zugegebenermaßen – ich weiß nicht – 12, 13, 14 Jahre her. Aber: Das zeigt natürlich, mit welcher Lässigkeit sich der Öffentlich-Rechtliche auf die Zukunft einstellen kann. Das können die Privaten einfach nicht. Ich stimme Ihnen aber auch zu: Es sind Dilemmata, wohin man schaut. Und deswegen stellt sich mir die Frage, ob man nicht sehr viel grundsätzlicher an den öffentlich-rechtlichen Rundfunk ran müsste, sodass die einzelnen Streitfälle auch irgendwann mal beerdigt werden können, weil man sagt „Okay, wir machen was grundsätzlich anders“.

[00:09:11]
Daniel Bouhs: Genau. Es geht ja auch nicht nur um die Onlineaktivitäten. Derzeit gibt es ja auch eine Debatte, wie es mit dem Rundfunkbeitrag und dem Angebot mit Auftrag und Struktur von ARD, ZDF und Deutschlandradio weitergehen soll. Du berichtest da teilweise auch selbst drüber, Johannes. Wie sieht für Dich, wenn Du es jetzt entscheiden könntest, die Zukunft des Öffentlich-Rechtlichen aus? Also wie sollte das aus Deiner Sicht neu strukturiert werden?

[00:09:34]
Johannes Boie: Also, ich glaube, dass der Öffentlich-Rechtliche – und das tut mir übrigens weh und leid – in einer Legitimationskrise ist. Das kommt paradoxerweise auch durch Zitate von Mitarbeitern. Ich glaube, dass Frau Leopold das z.B. mit ihren Aussagen einfach befeuert, weil man sagt „Okay, sie begreifen es nicht“. Es kommt auch wegen diesem Aktivismusvorwurf. Darüber sprachen wir schon. Es kommt wegen Ungleichheiten, Unfairness. Stichwort: Ist Ostdeutschland richtig gecovert? Es kommt darüber, dass viele Leute das Gefühl haben, der öffentlich-rechtliche Rundfunk sei sehr linkslastig. Und ehrlich gesagt: Mir fällt auch kein konservativer Kommentator im Öffentlich-Rechtlichen ein. Es kommt natürlich wegen der Kosten. Deswegen hatten wir ja die ganze Misere in Sachsen-Anhalt, weil die Leute gesagt haben „Freunde, 8-Milliarden-Budget, noch mehr?!“. Zwei Drittel der Deutschen wollen ja auch keine Erhöhung, also zwei Drittel der Bevölkerung. Und deswegen: Ja, Daniel, du sprichst das an. Ich glaube, man muss grundsätzlicher darüber reden.

[00:10:30] Ich könnte mir vorstellen, dass man sich hin entwickelt zu einer Welt, wo eben nur noch einzelne Sendungen öffentlich gefördert werden, z. B. die „Tagesschau“, die natürlich unheimlich wichtig ist und jede Berechtigung hat, das Nachrichtenangebot. Wo man aber den „Bergdoktor“, die neun Sonderkommissionen, die ich weiß nicht wie vielen „Tatorte“, die unzähligen Tochterfirmen, Mediaagenturen, Produktionsfirmen alle mal abschafft. Ich weise nur nochmal kurz darauf hin: Der WDR hat sich ein neues Haus gebaut. Das sollte 80 Millionen kosten. Es hat dann 240 Millionen gekostet. Ist nicht vor 2024 in Betrieb. Es ist wirklich wie eine Behörde, bei der es nicht rund läuft. Alles ein bisschen verkrustet. Ich bin dafür, das aufzubrechen. Und zwar so, dass die positiven Aspekte des öffentlich-rechtlichen Rundfunks – nämlich eine gute Information für alle Bürgerinnen und Bürger – erhalten bleiben, aber zu sehr viel geringeren Kosten.

[00:11:27]
Jörg Wagner: Da kommen Sie bei einer Position auf alle Fälle, beim „Bergdoktor“, an den ehemaligen Geschäftsführer des Privatfunkverbandes Vaunet wahrscheinlich nicht vorbei. Der sieht das ganz gern. Aber wir haben es verstanden, Ihre Botschaft. Bitte bleiben Sie in der Leitung. Wir wollen uns gleich auch noch Verstärkung holen, nämlich zum Thema Clubhouse. Das ist ja eine App, die – Sie sagten es, die Marke ja bereits schon – auf dem iPhone nur gibt. Wir können hier an Eides statt versichern, dass uns radioeins noch nie ein iPhone geschenkt hat.

[00:11:54]
Daniel Bouhs: (lacht) Genau.








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