Gardner, Sue

Sue Gardner

„Wir wollen Wikipedia in jeder Sprache zugänglich machen.“


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Wer:
* Sue Gardner, Executive Director der Wikimedia Foundation
* Eleni Klotsikas, Medienjournalistin
Was: Interview zu Wikipedia nach 10 Jahren der Gründung
Wo: Berlin
Wann: rec.: 21.11.2011, veröffentlicht 26.11.2011, radioeins-Medienmagazin
Vgl.: Wales, Jimbo

(wörtliches Transkript, Hörverständnisfehler vorbehalten)

Eleni Klotsikas: Wikipedia hat dieses Jahr seinen 10. Geburtstag gefeiert. Wo steht die Online-Enzyklopädie 10 Jahre nach Ihrer Gründung?

Sue Gardner: Wikipedia ist zu einem unglaublichen Erfolg geworden. Darüber sind wir sehr glücklich. Die Online-Enzyklopädie wird immer beliebter. Jedes Jahr kommen zig Millionen neue Nutzer hinzu. Heute sind es 477 Millionen Menschen weltweit, die Wikipedia regelmäßig nutzen. Studien zeigen, dass mit der Zeit auch die Qualität immer besser wird. Denn je länger ein Artikel existiert, umso besser wird er, weil mehr Leute daran gearbeitet haben. Und auch die Anzahl der Artikel steigt.

Was für uns jedoch heute eine große Herausforderung darstellt, ist diese aktive wachsende Autorengemeinschaft auch zu halten. Wir wissen, dass neue Autoren nicht in gleichem Maße hinzukommen wie das früher einmal der Fall war und das bedeutet für uns, dass wir uns an die Arbeit machen müssen, neue Menschen zu erreichen und sie für uns zu gewinnen. Und sie auch davon zu überzeugen, wenn sie schon einmal für Wikipedia geschrieben haben, auch weiter zu machen und dabei zu bleiben.

Eleni Klotsikas: Charakterisieren Sie doch mal den typischen Wikipedia-Autor. Was macht er beruflich, wie alt ist er und was zeichnet ihn aus?

Sue Gardner:Also, der durchschnittliche Wikipedia-Autor ist 32 Jahre alt, das variiert natürlich von Region zu Region. Typischerweise ist das jemand, der entweder gerade mit dem Studium begonnen hat oder gerade eins abschließt. Überrepräsentiert sind in der Autorengemeinschaft Leute aus den Bereichen Wissenschaft, Technologie, Ingenieurswesen und Mathematik.

Wikipedia-Autoren sind sehr strebsam, manchmal sogar ein wenig pedantisch. Es sind Menschen, die es wirklich sehr genau nehmen und wenn sie irgendwo einen Fehler entdecken, dann müssen sie ihn sofort beheben. Es sind Menschen, die an den Fortschritt glauben und daran, dass Wissen den Menschen hilft ein besseres Leben zu leben.

Eleni Klotsikas: Was ist denn der Grund für den Rückgang der Partizipation an der Online-Enzyklopädie? Ist die Faszination vielleicht weg?

Sue Gardner: Das glaube ich nicht. Es gibt einen natürlichen Lebenszyklus für das Schreiben von Artikeln. Wenn ich mit ehemaligen Autoren spreche, dann sagen die mir, dass das, was sie davon abhält weiterzumachen, ihre Lebenspartner sind. Weil er oder sie möchten, dass sich die Person mehr auf die Karriere oder auch die Beziehung und die Familie konzentriert, denn das Schreiben für Wikipedia ist ja doch eine sehr einzelgängerische Tätigkeit.

Es ist normal, dass sich das eher Leute leisten können, die studieren und vielleicht ein bisschen mehr Zeit haben. Wir wünschen uns aber, dass die ehemaligen Autoren wieder zu uns zurückkehren, wenn sie zum Beispiel in Rente gegangen sind und dann wieder mehr Freizeit haben. Das ist eine unserer Herausforderungen. Auf der anderen Seite ist es schwieriger geworden, für neue Leute einzusteigen, weil das System des Editierens mit der Zeit immer komplexer geworden ist. Wikipedia war früher etwas offener. Noch in der Anfangsphase durften Neueinsteiger auch mal gewagte Thesen aufstellen, die Regeln brechen oder Fehler machen. Das war damals O.K., die Community hat das verziehen und man konnte trotzdem weitermachen und zu einem geschätzten Mitglied der Wikipedia-Gemeinschaft werden. Heute ist das anders, die Neueinsteiger sehen sich den erfahrenen, selbstbewussten Autoren gegenüber und werden für Fehler schnell abgemahnt und kritisiert. Es gibt also weniger Spielraum zum Lernen und zum Experimentieren. Wir müssen also das Rad wieder ein wenig zurückdrehen und eine Kultur der Toleranz und des Verzeihens von Fehlern etablieren, damit Leute wieder motiviert werden einzusteigen und sich weiterentwickeln können.

Eleni Klotsikas: Noch vor zehn Jahren gab es ja diese Faszination für das Phänomen der Schwarmintelligenz, das kollaborative Gedächtnis und Wissen. Heutzutage hat man eher den Eindruck, dass junge Menschen lieber Zeit darauf verwenden, sich in sozialen Netzwerken darzustellen, sich einer Öffentlichkeit zu präsentieren, als zu kollaborieren, um etwas zu erschaffen. Ist das Netz zu einem Raum für Individualisten geworden?

Sue Gardner: Das ist wirklich eine interessante Frage. Ich glaube, dass die Tools für Selbstdarstellung und Kreieren einer Online-Identität sich sehr weit entwickelt haben. Menschen verwenden unheimlich viel Energie damit, ihr Image im Netz aufzupolieren. Im Sillicon Valley steigt sogar die Anzahl der Firmen, die Online-Identitäten analysieren und herausfinden, wie hoch das Ansehen einer Person ist, um es für Marketingzwecke zu nutzen.

Aber es wird auch immer Leute geben, die den Wert von Wikipedia schätzen, das Zusammenkommen, um gemeinsam etwas zu erschaffen, das die Summe der Einzelerkenntnisse ist, das besser ist als wenn jeder es für sich allein machen würde. Ich glaube ehrlich gesagt, das Haupthindernis, junge Leute für Wikipedia zu gewinnen, ist die Technologie.

Wenn man heute 20 ist, dann ist man einfach zu bedienende Anwendungen wie Facebook oder Twitter gewohnt. Wikipedia basiert noch auf der Technologie von 2001, als noch alles etwas komplizierter war. Die Bedienung erscheint jungen Leuten im Vergleich zu Twitter oder Facebook erstaunlich schwierig.

Eleni Klotsikas: Und wie wollen Sie junge Leute motivieren, mitzumachen?

Sue Gardner: Wir haben ein Bündel von Maßnahmen in Angriff genommen. Das ganze nennt sich Globales Bildungsprojekt. Wir arbeiten weltweit mit Universitäten zusammen und haben damit letztes Jahr in den USA begonnen. Dieses Jahr führen wir das Projekt in Indien weiter. Auf dem Plan stehen noch viele andere Länder. Der Kern des Projektes ist, dass wir versuchen die Professoren davon zu überzeugen, dass sie ihre Studenten, damit beauftragen, Wikipedia-Artikel als Hausaufgabe zu schreiben. Wir sind diese Kooperation beispielsweise mit der politischen Fakultät der Universität Havard eingegangen. Und die Artikel, die dabei herauskamen waren großartig, die Studenten erhielten Hilfe von erfahrenen Wikipedia-Autoren und der Professor hatte sein Augenmerk darauf. Den Studenten und den Professoren hat es wirklich Spaß gemacht, denn sie haben eine große Leserschaft erreichen können. Es war ein sehr erfolgreiches Projekt.

Wir wissen natürlich nicht, ob diese jungen Studenten alle Wikipedianer werden, viele von ihnen sicherlich nicht, was auch nicht schlimm wäre, denn die Online-Enzyklopädie hat von ihrem Engagement jetzt schon enorm profitiert. Wir hoffen aber, dass einige den Spaß dabei entdeckt haben und weiter für uns schreiben.

Eleni Klotsikas: Gibt es ein nächstes Kapitel für Wikipedia, im dem Sie etwas ganz neues wollen und haben Sie außer der Enzyklopädie noch andere Pläne?

Sue Gardner: Unsere vordringlichste Aufgabe ist es, das menschliche Wissen auch in den Ländern des globalen Südens zugänglich zu machen. Wikipedia in Hindi ist immer noch sehr unterentwickelt und muss dringend ausgebaut werden und auch das arabische Wikipedia ist schwach, genauso wie Suaheli. Wir wollen Wikipedia in jeder Sprache zugänglich machen. Im Moment sind es rund 280 Sprachen, doch einige sind noch ziemlich ausbaufähiger. Wir haben immer noch viel zu tun.


(Foto: Lane Hartwell on behalf of the Wikimedia Foundation; Screenshots [3] Frank Schulenburg, CC Attribution-Share Alike 3.0 Unported license )







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