Kirsten Niehuus: Missbrauch bleibt nicht mehr unter dem Deckel

Kirsten Niehuus | Foto: © Jörg Wagner
Kirsten Niehuus | Foto: © Jörg Wagner


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Was: Interview über Berlinale, #metoo und den Serien-/Film-Hotspot Berlin-Brandenburg
Wer: Kirsten Niehuus, seit 2004 Geschäftsführerin der Filmförderung des Medienboard Berlin-Brandenburg
Wann: rec.: 07.02.2018, 21:54 Uhr, veröffentlich in gekürzten Fassungen am 10.02.2018, 18:48 Uhr im radioeins-Medienmagazin (rbb) und 11.02.2018 im rbb-Inforadio, 10:44/15:24 Uhr

Vgl.:
* http://www.berlinale.de
* http://www.medienboard.de


[0:00] Kirsten Niehuus: Kirsten Niehuus. Ich bin Geschäftsführerin beim Medienboard Berlin-Brandenburg und da zuständig für die Filmförderung.

[0:07] Jörg Wagner: Ihnen müsste jetzt schon irgendwie das Adrenalin in den Venen pulsieren, genau, weil die Berlinale schon kleine Rufzeichen voraus sendet. Aus Ihrer Perspektive, wohin sollte man gucken? Stichwort: Serien, Berlin und Brandenburg?

[0:00] Kirsten Niehuus: Also, ich find’ ja immer das allertollste bei so einem großen Festival ist, dass es so unendlich viel zu entdecken gibt. Also, in seinem normalen Alltag als Zuschauer, sei es im Kino, auf einer Plattform oder auch bei ganz normal öffentlich-rechtlichen oder privaten Sendern, da weiß man ja meistens schon, worauf man sich einlässt. Das tolle ist, dass so’n Festival so groß ist, dass jeder was finden kann. Natürlich gibt es immer so ein paar Highlights. Und dazu zählen zum einen Serien und zum anderen natürlich der Wettbewerb, aber auch in den “Perspektiven Neues Deutsches Kino” oder “Generations” kann man viel entdecken. Ich bin total gespannt auf Christian Petzolds Adaption von Anna Seghers “Transit”, der sozusagen aus dem historischen Kontext damals in den 40er Jahren, jetzt in eine unbestimmte Gegenwart transponiert worden ist mit den fantastischen jungen Darstellern: Franz Rogowski und Paula Beer, die wirklich ganz, ganz toll sind. Ich bin … natürlich freue ich mich wahnsinnig auf den Eröffnungsfilm “Isle of Dogs” von Wes Anderson. Und wer den auf der Berlinale verpasst, weil es ist ja auch nicht immer so ganz einfach, Karten zu bekommen, der kann den natürlich danach auch im Kino bekommen. Es ist ein Animationsfilm, dem unter anderem die wunderbare Tilda Swinton, die auch zur Berlinale kommt, ihre Stimme verleiht. Für alle, die sich noch mal fragen, wie hat Berlin eigentlich vor Mauerfall ausgesehen, würde ich die digitalisierte Fassung von Wim Wenders Klassiker “Himmel über Berlin” ganz dringend anempfehlen, ein sehr berührender Schwarz-Weiß-Film, der ein Zeitdokument ist und ein großartiges Märchen erzählt. Und man soll nie vergessen, an die Engel zu glauben. Das legt einem dieser Film sehr, sehr nahe. Also, damit hat man schon mal eine ganze Menge zu tun. Ich würde allen raten, mal in den sogenannten Neben-Sektionen zu schauen, ob das “Kulinarisches Kino” ist oder die “Berlinale Classics”, einfach mal ab von eingetretenen Pfaden und Algorithmen, die sagen, wenn Sie dies mögen, dann mögen Sie auch das, einfach mal selber rausfinden, was man gerne mag.

[2:48] Jörg Wagner: Und was Sie jetzt empfehlen, ist jetzt nicht von, ich sag mal, dann Bitternis getränkt, weil man keine Karten mehr bekommt?

[2:56] Kirsten Niehuus: Ich finde ja, das ist wirklich meine tiefe Überzeugung, dass das tolle an Festivals ist – und das ist ja häufig im Leben so, dass man sich auf etwas kapriziert, das nicht bekommt, etwas anderes dafür bekommt und das die viel größere und schönere Überraschung ist. Und dafür sind Festivals eigentlich gemacht, dass man mit Leuten, die man vorher nicht kannte, Filme sieht, von denen man noch nie gehört hat und dann sehr beglückt, irritiert oder erleuchtet nach Hause geht.

[3:22] Jörg Wagner: Es wird zurzeit ein Thema sehr heiß diskutiert unter dem Hashtag #metoo. Ich glaube, die Berlinale kann sich dem nicht verschließen, will es auch gar nicht, oder?

[3:31] Kirsten Niehuus: Wir waren schon sehr früh dabei, als es um die Unterstützung von Pro Quote, damals nach Pro Quote Regie, mittlerweile hat sich ja der Anspruch eine, sozusagen, gleiche Quote zu haben auf viele oder auf alle Gewerke im Filmbereich erweitert und ich glaube, Pro Quote und #metoo und “Not Your Doll”, also alles Initiativen, die sich mit der Gleichbehandlung von Männern und Frauen und mit dem Anspruch beschäftigen, dass man Macht – und Film ist eben ein Kulturgut, was über auch Hierarchien am Set hergestellt – hier ist natürlich immer König der Regisseur und vielleicht in Amerika noch der Produzent, siehe Harvey Weinstein. Da sind die Strukturen in Europa ein bisschen anders, aber natürlich ist es auch hier, siehe Dieter Wedel und andere, nicht auszuschließen oder dass es zu Machtmissbrauch in jeglicher Form kommt. Und der Anspruch, der tituliert wird, dass man da ein Auge drauf hat und dass man den Anfängen wehren soll, das ist eine Initiative, die wir ganz stark unterstützen und deshalb fördern wir mit dem Geld, was uns zur Verfügung steht, auch dass Vertrauenspersonen am Set finanziert werden können, die für Schauspielerinnen, Schauspieler und aber auch jeden anderen am Set eine Anlaufstelle sind, wenn es zu verbalen und/oder sexuellen Übergriffen kommt.

[5:09] Jörg Wagner: Der Saarländische Rundfunk, die ARD allgemein haben jetzt gesagt, dass sie die Akten rausholen, um zu sehen, was möglicherweise auch verdrängt wurde, sage ich mal so neutral. Das ZDF hat das angekündigt. Gibt’s vom Medienboard irgendwie eine Empfehlung, wie man das tatsächlich deutschlandweit mit einer gewissen Sorgfalt auch aufarbeitet, damit – man muss dazu sagen, Dieter Wedel, es gilt immer noch die Unschuldsvermutung, obwohl die Zeugenaussagen ziemlich erdrückend sind – aber dass man das mit der nötigen Coolness, Distanz und auch Fairness absolviert. Kann man sich da irgendein Gremium vorstellen, außer dass man jetzt am Set eine Beauftragte, einen Beauftragten hat, so eine Art Ombudsmann für eine Produktion?

[5:56] Kirsten Niehuus: Es gab ja schon Vorschläge, dass man quasi Runde Tische nach dem Modell Südafrika schafft und natürlich, Sie haben völlig recht, juristisch gesehen, gilt bei Dieter Wedel und bei anderen die Unschuldsvermutung. Und die möchte ich auch auf gar keinen Fall antasten. Allerdings gibt es natürlich auch eine moralische Position. Und es sollte jetzt nicht zu einer Hetzjagd kommen und man weiß ja wie schnell gerade in Zeiten, in denen soziale Medien ausschlaggebend über das Wohl und Wehe einer Person sind, dass möchten wir auf gar keinen Fall, aber ich glaube, dass es wichtig ist, dass man das zum Thema macht. Und da ist die Branche auch gefragt. Da gibt es ja sehr viele Leute, die an so einer Produktion beteiligt. Das ist ja nicht ein Prozess, der im verschlossenen Zimmer zwischen zwei Menschen stattfindet. Und ich glaube, das wichtigste, was man erreichen kann, ist, dass alle verstehen, dass Missbrauch nicht mehr sozusagen unterm Deckel bleibt. Jeder Missbrauch, egal ob in der Familie, am Filmset oder in anderen Berufen – wir sind ja nicht die einzigen – funktioniert nur solange, wie kein Dritter hinguckt. Und ich glaube, die Tatsache, dass ein Dritter hinguckt, ist schon eine sehr gute Prophylaxe dafür, um das einzudämmen.

[7:16] Jörg Wagner: Nun ist das ja das Medienboard Berlin-Brandenburg nicht nur für die Berlinale konzipiert worden, sondern … wie muss man das verstehen? Ich habe gehört, Berlin sei Serien-Hauptstadt. Ist das jetzt eine zugespitzte Marketing-Aussage oder ist es tatsächlich so?

[7:30] Kirsten Niehuus: Das ist keine zugespitzte Marketing-Aussage. Das ist tatsächlich so. Vielleicht muss man zunächst mal definieren, von welchen Serien in diesem Kontext die Rede ist. Das sind jetzt nicht die klassischen Vorabendserien. Da ist es möglicherweise doch München oder vielleicht auch Nordrhein-Westfalen als Flächenland, sondern wenn wir von Serien-Hauptstadt sprechen, dann meinen wir die neuen und anspruchsvollen Serien, die man auf unterschiedlichen Kanälen, aber eben auch auf Plattformen wie Netflix oder Amazon oder auf Sendern wie Sky findet. Das ist sozusagen das neue Format, wo auch sehr viele Kino-Regisseure sich dem sozusagen seriellen Erzählen widmen, also die große Geschichte lang und breit erzählen und so, dass man als Zuschauer sagt, davon würde ich gerne mehr sehen und da ist nicht nach 90 Minuten Schluss und noch nicht mal nach zwei Stunden, sondern das dauert erheblich länger. Da können wir ja ganz klar feststellen, dass diese Serien, wenn sie denn in Deutschland gedreht werden, maßgeblich in Berlin gedreht werden. “Babylon Berlin” trägt es im Titel, aber auch “Berlin Station”. Angefangen hat das ganze Serien-Wunder für uns hier in der Region eigentlich mit “Homeland” mit Claire Danes und die ganze Staffel, die in Berlin gespielt hat. Der sind viele andere gefolgt. Jetzt dreht demnächst gerade eine amerikanische Serie “Counterpart”, wo es auch um sozusagen gespiegelte zwei Welten – es gibt die gute Welt und die böse Welt, in der Hauptrolle J. K. Simmons, grossartiger, amerikanischer Schauspieler – geht. Es gibt “4 Blocks”, der sozusagen … eine Serie, die libanesische Clans in Neukölln erzählt, mit allem, was dazu gehört und auch wirklich im Gangsterfilm-Genre angekommen ist. Finde ich ganz toll. Und es gibt eben auch eine große Vielfalt. Es gibt “BEAT”, eine neue Serie von Marco Kreuzpaintner. Also, man … ich … Sie merken schon, ich komm’ hier so richtig in Schwierigkeiten, das aufzuzählen, wohingegen ich Ihnen relativ genau sagen kann, dass es zwei Serien gibt, die in Bayern gedreht werden und …

[9:48] Jörg Wagner: Und “Pastewka” in Köln, ne?

[9:50] Kirsten Niehuus: “Pastewka” in Köln würde ich nicht in dieses Format zählen. Also, “Pastewka” finde ich – und zwar nicht, weil ich “Pastewka” nicht qualitätsvoll finde. Ich finde den ganz toll, aber “Pastewka” ist eigentlich klassische Fernsehunterhaltung, der sich ein bisschen mehr Freiheit jetzt bei Amazon sozusagen ertrotzt hat, erkämpft hat, aber an dem Format hat sich eigentlich nicht viel geändert, wohingegen sowas wie “Babylon Berlin” oder “Berlin Station” hatte es so nie im deutschen Fernsehen gegeben.

[10:23] Jörg Wagner: Woran liegt das, dass Berlin so attraktiv ist? Ist das das Klischee, was Berlin aufgeladen hat, irgendwie immer noch die geheimnisvolle Stadt zu sein, wo sich früher hier die Geheimdienste tummelten und wo es viele historische Bauten gibt, die an die Zeit auch der Nazidiktatur erinnern, dass man hier so viele Widersprüche findet oder ist das, weil Sie mit Geld locken?

[10:45] Kirsten Niehuus: So viel Geld können wir gar nicht auf den Tisch legen, damit die alle hierher kommen. Leider – möchte ich hinzufügen. Aber das schöne ist ja, die gute Nachricht ist, dass es auch so funktioniert. Und ich glaube eben, dass tatsächlich Berlin immer noch ein großes Mysterium umgibt, also sicherlich zum einen die Erinnerung an die Schrecken der Nazidiktatur. Dann das für viele Ausländer immer noch schwer nachvollziehbare Prinzip, dass hier eine Mauer mitten durch die Stadt gegangen ist und auch 28 Jahre danach, die Mauer ist so lange weg, wie sie gestanden hat, ist, glaube ich, die Mauer als Symbol in vielen Köpfen der nicht mehr ganz jungen Generation und als Schreckenssymbol für die Jüngeren durchaus noch präsent. Dann hat Berlin ja eine sehr zerrissene Architektur. Nazi-Architektur spielt ‘ne Rolle, aber eben auch viele Häuser, die noch nicht zu Tode gentrifiziert worden sind. Ich glaube, all das verbunden wiederum mit einem sehr lässigen und Kultur geprägten Lifestyle ist eine sehr attraktive Mischung für Amerikaner und andere internationale Produktionen hierherzukommen. Denn man darf auch nicht vergessen, wenn sie … amerikanische Schauspieler beispielsweise, die sind dann ja auch über viele Monate, wenn die große Rollen spielen aus ihrer Heimat weg. Und dann müssen die sich auch irgendwo wohlfühlen. Und ich glaube, jemand wie Tom Hanks beispielsweise hat das ja sehr zum Ausdruck gebracht, wie wahnsinnig wohl er sich in Berlin gefühlt hat. Oder Richard Armitage oder, oder, oder. Da gibt’s halt sehr viele, die das hier sehr genießen quasi inkognito essen zu gehen, in tolle Ausstellungen zu gehen, also das ganze Kulturangebot in Berlin auch zu nutzen. Denn man darf ja nicht vergessen, dass das alles kreative Menschen sind, die auch gerne in einer kreativen Umgebung leben.

[12:51] Jörg Wagner: Kreative Umgebung. Das ist schon das Stichwort. Sie tragen ja auch den Ländernamen Brandenburg im Titel: Medienboard Berlin-Brandenburg. Wie sieht es damit aus? Ist Brandenburg sexy für die Filmindustrie?

[13:02] Kirsten Niehuus: Ist immer sexyer geworden, wenn man das so sagen darf. Also zum einen sind natürlich die Studios da, die das ihrige dazu getan haben, auch das Umland zu entdecken. Aber auch beispielsweise Buckow. Da wird relativ viel gedreht. Mehr als den meisten Brandenburgern klar ist.

[12:23] Jörg Wagner: Wegen Brecht oder weswegen?

[13:24] Kirsten Niehuus: Nee, gar nicht wegen Bertolt Brecht. Also zum Beispiel: “Bibi und Tina” hat da über Tage gedreht. Ich glaube, den jugendlichen Darstellern war jetzt nicht so richtig klar, dass Brecht da sein Sommerhaus hatte. Macht aber auch nix. Die hatten es da trotzdem schön. Ich glaube, eine der sozusagen unbekanntesten Filmmetropolen in der Region ist: Nauen. Nauen, da wird wahnsinnig viel gedreht von “Homeland” über Märchenfilme. Nauen hat eine zauberhafte Altstadt, die oft abgebildet wird. Das ist aber sozusagen ein gut gehütetes Geheimnis. Nicht, weil das jemand aktiv verheimlicht. Aber das ist so. Aber die Film-Scouts haben Nauen schon längst für sich entdeckt.

[14:08] Jörg Wagner: Bad Saarow gehört, glaube ich, noch dazu.

[14:09] Kirsten Niehuus: Ja, Bad Saarow. Belzig. Dann Beelitz-Heilstätten. Da ist viel gedreht worden.

[14:18] Jörg Wagner: Wegen des Spargels und weil Honecker da Unterschlupf fand?

[14:21] Kirsten Niehuus: Nee, wegen der Heilstätten. Weil die so ein bisschen gruselig aussehen. Deshalb ist da viel passiert.

(wörtliches Transkript)








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