Verantwortung und investigativer Journalismus: Funk-Format „STRG_F“ mit Prozessbeeinflussung?

Logo vom funk-Format „STRG_F“


Auf YouTube hat das ARD-Funk-Format „STRG_F“ Ausschnitte aus Vernehmungsvideos mit dem mutmaßlichen Lübcke-Mörder, Stephan Ernst veröffentlicht. Welche Grundrechte sind höher zu bewerten? Hat die Öffentlichkeit Anspruch auf diese Dokumente oder beeinflussen diese nicht für die Öffentlichkeit festgehaltenen Gespräche die Wahrheitsfindung im gerade laufenden Prozess bzw. werden sogar Persönlichkeitsrechte verletzt?


Wer:
* Prof. Dr. Christian Schertz, Medienanwalt
* Dietmar Schiffermüller, Redaktionsleiter „STRG_F“
* Jörg Wagner, freier Medienjournalist
* Daniel Bouhs, freier Medienjournalist
Was: Telefoninterviews über geleakte Vernehmungsvideos
Wann: 01.08.2020, 18:35 Uhr im radioeins-Medienmagazin, rbb
und im rbb Inforadio, 02.08.2020, 10:44/17:44/22:44 Uhr in einer gekürzten Fassung

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(wörtliches Transkript, Hörverständnisfehler vorbehalten)

[0:00:07]
„Vor dem Oberlandesgericht Frankfurt hat der Prozess um den Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke begonnen. Angeklagt sind der Rechtsextremist Stephan Ernst, sowie ein mutmaßlicher Helfer. Ernst soll Lübcke vor einem Jahr aus nächster Nähe erschossen haben. Als Motiv sehen die Ermittler: Rassismus und Fremdenhass. Lübcke hatte sich in Kassel für Flüchtlinge eingesetzt.“

[0:00:31]
Daniel Bouhs: Ja, das war Mitte Juni. Der Prozess ist noch lange nicht an seinem Ende angekommen. Und nun sorgte dann nicht für Aufsehen, was im Gericht passierte, sondern was draußen die Runde machte. Die NDR-Redaktion „STRG_F“ hat längere Ausschnitte aus den Vernehmungsvideos veröffentlicht.

[0:00:48]
„Ich habe auf Kopfhöhe gehalten, selber abgedrückt. – Sie kamen aus der Dunkelheit? – Er hat mich noch gesehen.“

[0:00:59]
Daniel Bouhs: Das also ein Ausschnitt von „STRG_F“. Das Ganze hat deutlich mehr als 20 Minuten. Das war das erste Geständnis. Es gab ja zwei Schritte letztlich. Und wichtig ist dabei, glaube ich noch, die Ausschnitte, das erste Geständnis gegen das zweite. Da gibt es auch Unterschiede. Die werden von zwei Kollegen eingeordnet, die zu dem Fall und zu Rechtsextremismus grundsätzlich recherchieren. Dieser Vorgang, Vernehmungsvideos im Netz auch noch während des Verfahrens, sorgte für Aufsehen und für Kritik. Denn manch einer warnt vor so einem Schritt, hören wir zum Beispiel, was die Gerichtsreporterin des Hessischen Rundfunks, Heike Borufka, in der „hessenschau“ sagte.

[0:01:38]
„Wenn wir uns überlegen, dass erst gestern der erste Zeuge, nämlich der Sohn von Walter Lübcke, vernommen worden ist, dass noch sehr, sehr viele Zeugen hier vor Gericht vernommen werden sollen, dann kann man sich vorstellen, dass die natürlich eins machen, was wir alle machen, man schaut sich das an. Und das beeinflusst Zeugen. Und man sollte immer im Hinterkopf haben, Zeugen sollen möglichst unbeeinflusst ihre Aussage machen, weil Gerichte ja versuchen, die Wahrheit herauszufinden. Und wenn solche Zeugen solche Videos vorhersehen, dann kann das sehr wohl sein, dass es ihre Aussage vor Gericht verändern kann.“

[0:02:13]
Daniel Bouhs: Ja und dazu muss man sagen, dass Vernehmungsvideos publik werden ist in Deutschland alles andere als üblich, anders als in den USA, wo sie sogar in Fernsehdokumentationen einfließen.

[0:02:23]
Jörg Wagner: Und bevor wir gleich mit einem Verantwortlichen der Redaktion reden, wollen wir kurz nachfragen bei Prof. Christian Schertz, Persönlichkeitsrechtsanwalt in Berlin. Er ist uns jetzt telefonisch zugeschaltet. Guten Abend!

[0:02:36]
Prof. Dr. Christian Schertz: Guten Abend!

[0:02:37]
Daniel Bouhs: Hat Sie die Veröffentlichung der Vernehmungsvideos von Stephan Ernst überrascht?

[0:02:42]
Prof. Dr. Christian Schertz: Mich hat das insofern überrascht, als dass es tatsächlich eine neue Qualität einer Veröffentlichung aus Strafverfahren ist. Das hat es nach meiner Kenntnis so noch nie gegeben, wie Daniel Bouhs zurecht sagte. Er gab es in Amerika … gibt es das bei Court-TV, Gerichts-TV, da können sie sogar teilweise Vernehmungen durch die Ermittlungsrichter live im Fernsehen beobachten. Das ist aber auch eine andere Auffassung in Amerika. Und in Deutschland ist ja sogar das Gerichtsverfahren kamerafrei. Dort sind Filmaufnahmen und Tonaufnahmen während Zeugenvernehmungen ausdrücklich gesetzlich untersagt. Deswegen haben wir auch diesen Beruf des Gerichtszeichners. Und das hier ist natürlich eine andere Qualität. Hier werden jetzt sogar Vernehmungsvideos des Beschuldigten gezeigt. Allerdings muss ich sagen, in dem ganz konkreten Fall – die Reporterin hat sicherlich recht – derartiges Material gehört in das Verfahren und hat nichts im Fernsehen zu suchen grundsätzlich. Früher gab es sogar Straftatbestände, dass Mitteilungen aus Ermittlungsakten strafrechtlich untersagt sind. Aber hier ist es nun mal so, dass ist der erste Mord an einem Politiker durch einen Nazi in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Das heißt, der Fall hat ausnahmsweise eine ganz besondere historische Bedeutung, die meines Erachtens in diesem ganz konkreten Fall, zumal das Geständnis später widerrufen wurde, die Ausstrahlung des Materials erlaubt. Aber es muss ein Ausnahmefall bleiben.

[0:04:02]
Daniel Bouhs: Also Ihre juristische Einschätzung, damit wir das verstehen, platt gesagt: Der NDR durfte das.

[0:04:07]
Prof. Dr. Christian Schertz: Der NDR durfte das und zwar ausnahmsweise, weil eben hier die Aussage des Täters und praktisch des Beschuldigten von historischer Qualität ist. Aber wie gesagt, wenn das umsich greifen würde, man jetzt aus allen Verfahren, die Vernehmungsvideos im Fernsehen sehen könnte, würden die Gerichtsverfahren konterkariert und die Justiz erschwert in ihrer Arbeit. Das muss grundsätzlich verhindert werden. Hier ist es aber ähnlich wie damals mit diesem Strache-Video von dem österreichischen Politiker in der Ibiza-Villa. Es gibt Ausnahmen, weil die Fälle derartig geschichtsträchtig und historisch relevant sind, dass dort die Medien Artikel 5 (GG) auf ihrer Seite haben und ausnahmsweise diesen Rechtsbruch rechtfertigen können.

[0:04:50]
Jörg Wagner: Vielen Dank also für diese kurze Einordnung, Christian Schertz und damit kommen wir zu Dietmar Schiffermüller.

[0:04:56]
Daniel Bouhs: Genau. Dietmar Schiffermüller leitet die Redaktion „STRG_F“ Wir beide kennen uns vom NDR. Insofern duze ich ihn. Hallo Didi!

[0:05:05]
Dietmar Schiffermüller: Hallo, guten Tag, schönen guten Tag.

[0:05:06]
Daniel Bouhs: Wir haben es eben gehört, zu Eurer Veröffentlichung gibt es auch kritische Stimmen. Es gibt auch unterstützende Stimmen, wie eben von Christian Schertz. Ihr habt Euch jedenfalls entschieden, große Auszüge der Vernehmungsvideos zu veröffentlichen. Wie lief diese juristische Abwägung im NDR bei euch ab? Was war ausschlaggebend?

[0:05:24]
Dietmar Schiffermüller: Also, es war eine sehr schwere Abwägung erstmal. Und es war nicht nur eine juristische natürlich. Es war erstmal eine juristische, nämlich darf man das überhaupt? Und da ist es so, es ist ein öffentliches Verfahren und diese Vernehmungen, diese Videos wurden schon ins Verfahren eingebracht. Die waren also öffentlich. Und deswegen haben wir dem Gericht nicht vorgegriffen. Und deswegen aus juristischer Sicht konnten wir das. Trotzdem muss man abwägen, verschiedene Güter abwägen. Ein wichtiges Gut ist natürlich, gibt es ein hohes öffentliches Interesse. Und das ist meines Erachtens sehr stark der Fall, weil es tatsächlich der erste wohl rechtsextremistisch motivierter Mord an einem Politiker in der Bundesrepublik ist. Es ein exponierter Fall. Die Gesellschaft ringt darum. Und deswegen gibt es ein hohes öffentliches Interesse. Aus meiner Sicht ist es so, ein öffentliches Strafverfahren ist nicht nur dafür da, die rechtliche Schuld zu bestimmen, sondern auch dafür da, dass die Gesellschaft reflektieren kann über Taten. Deswegen ist ja auch eine Stellvertreter-Öffentlichkeit sozusagen in der Gerichtsverhandlung. Journalistinnen und Journalisten paraphrasieren. Wir haben Auszüge gezeigt. Das ist tatsächlich neu. Das ist ein Einzelfall. Und das ist ein Fall nach einer gründlichen Abwägung. Wir haben dann auch uns gefragt, wie wir das Publizieren können. Und da war klar: nur in einem langen, ruhigen Film, der einordnet, der Kontexte liefert. Und das Material haben wir eben nicht freigegeben für kurze Magazinsendungen, sondern es blieb bei diesem Film.

[0:06:46]
Jörg Wagner: Zu den Ausschnitten und zu der Problematik, was Ausschnitte auch anrichten können gleich. Aber zuerst, Sie arbeiten ja auch für „Panorama“, vor allem für die Reihe „Panorama – die Reporter“. Ist es denn üblich, dass investigative Journalisten Vernehmungsvideos bekommen? Oder war das jetzt die große Ausnahme und Sie haben sich sozusagen dafür dann entschieden?

[0:07:04]
Dietmar Schiffermüller: Naja ist es so, dass es noch gar nicht so häufig vorkommt, dass es Vernehmungsvideos gibt, weil rechtlich war es so, dass es möglich ist, für ermittelnde Beamtinnen und Beamten, aber nicht vorgeschrieben. Es gab Anfang des Jahres eine Änderung in der Strafprozessordnung. Seitdem müssen Aussagen von Beschuldigten eines vorsätzlichen Tötungsdeliktes mit Bild und Ton aufgezeichnet werden. Übrigens ist die Begründung: Es ist für die Wahrheitsfindung. Also auch klar für den Schutz des Beschuldigten, aber auch für die Wahrheitsfindung. Und deswegen kommt es nicht … also ich habe … bei mir kam es noch nicht vor.

[0:07:39]
Jörg Wagner: Wer hat denn ein Interesse, glauben Sie, dass das jetzt zu Ihnen gelangt ist oder, dass es sogar jetzt auch online steht? Was glauben Sie, wem hilft das?

[0:07:48]
Dietmar Schiffermüller: Ich spreche grundsätzlich nicht über Quellen. Und ich finde auch die Frage nach der Quelle eigentlich nicht statthaft.

[0:07:54]
Jörg Wagner: Aber Sie können ja trotzdem fragen, wem nützt das möglicherweise?

[0:07:58]
Dietmar Schiffermüller: Ich glaube …

[0:07:58]
Jörg Wagner: Ist das eine Abwägung, die Sie machen? Also wenn Sie so etwas veröffentlichen, logischerweise nehme ich an.

[0:08:03]
Dietmar Schiffermüller: Ja, das ist ein Gut. Aber das höhere Gut ist sozusagen: Ist es erhellend? Also liefert es einen Baustein in der öffentlichen Einordnung dieses Falles? Und das ist ein höherrangiges Gut. Und deswegen haben wir uns entschieden zu publizieren.

[0:08:18]
Daniel Bouhs: Christian Schertz, Sie sind auch noch in der Leitung …

[0:08:20]
Prof. Dr. Christian Schertz: Ja.

[0:08:21]
Daniel Bouhs: … Sie sind Unbeteiligter in diesem ganzen Vorgang. Was vermuten Sie denn sozusagen? Die Motivlage.

[0:08:28]
Prof. Dr. Christian Schertz: Na ja, wir haben ja auch jetzt über viele Jahre Erfahrungen. Da muss man vorsichtig sein. Aber es ist eben tatsächlich oft so, dass auch bei den Behörden einfach die Sachen durchgestochen werden. Von wem auch immer. Wenn Sie sich daran erinnern, als damals der Post-Chef Zumwinkel verhaftet wurde von dem Ermittlungsrichter, waren die Kameras schon vorher da, das heißt, die wussten Bescheid, dass es zu einer Verhaftung kommt. So ein bisschen ist das hier auch. Also natürlich gibt es ein Interesse, weil er hat ja die Aussage später auch widerrufen et cetera deutlich zu machen, dass er diese Tat gestanden hat, daran haben sicherlich auch Ermittlungsbehörden ein Interesse. Aber man kann der STA, also hier der Staatsanwaltschaft keinesfalls unterstellen, dass die das jetzt waren. Aber es ist eben … im Zweifel werden solche Dinge eben von wem auch immer … aber auch von … es muss ja vonseiten der Behörde gekommen sein. Egal, ob das jetzt mit Wissen und Wollen von irgendwelchen Beteiligten durchgestochen wurde, was ich nicht glaube und auch – was man schon gar nicht beweisen kann – aber es gibt Interessen, die sind hier schon relativ offensichtlich. Und nicht selten werden dann eben doch Dinge an die Medien gespielt. Ob das jetzt hier so war, kann man nicht sagen.

[0:09:34]
Daniel Bouhs: Nun ist es ja so, Didi, dass die Öffentlichkeit jetzt diesen Eindruck von Stephan Ernst hat, wenn man sich diese Videos oder dieses Video von euch anschaut. Wie er sich im Gericht verhält, kann die Öffentlichkeit nicht eins zu eins nachvollziehen, nur aus Erzählungen von Beobachtern. Da wird ja nicht mitgeschnitten. Da gibt es keine Veröffentlichungsmöglichkeit anschließend des direkten Materials. Hören wir noch mal, was die Gerichtsreporterin des hr, Heike Borufka, genau dazu gesagt hat:

[0:10:01]
„In diesen Videosequenzen, da sehen wir tatsächlich nur einen Teil. Wir sehen vor allen Dingen das, wo er die Tat schildert. Ich hab‘ etwas anderes gesehen. Ich hab‘ sehr wohl einen Menschen in diesem Video gesehen, der durchaus in der Lage ist zu reflektieren und der so etwas wie eine Lebensbeichte abgelegt hat und um es mal mit den Worten der Familie Lübcke oder ihres Anwaltes zu sagen, da hat jemand wirklich Reue gezeigt. Da hat jemand wirklich bereut, was er getan hat. Und das kann ich in diesen Schnipseln nicht erkennen. Wie auch? Es ist zu kurz dafür“.

[0:10:33]
Daniel Bouhs: Trägt so ein Video also vielleicht auch dazu bei, dass sich ein falsches oder zumindest etwas schiefes Bild in der Öffentlichkeit von der Wahrnehmung letztlich auch von einem Angeklagten festsetzt?

[0:10:46]
Dietmar Schiffermüller: Es ist klar, dass so diese Auszüge, die wir ausgewählt haben, auch nur Ausschnitte sein können. Und wir haben es auf bestimmte Fragestellungen aufgeteilt. Im Video zum Beispiel kommt vor, wie er sagt, ich hätte es nicht tun sollen und wie er auch ringt. Das ist schon auch Teil unserer Ausschnitte. Für uns war zum Beispiel interessant, wie seine Radikalisierung vonstatten ging. Es war ja nicht so, dass er aus der NPD heraus oder aus der Kameradschaft heraus oder aus einer Wehrsportgruppe heraus radikalisiert wurde, sondern aus dem rechtspopulistischen Milieu. Und das zum Beispiel ist erhellend für diesen Fall. Und erhellend ist zum Beispiel auch: Er weint ja an mehreren Stellen in diesen Vernehmungsvideos. Aber es geht schon vor allem dann, wenn er über seine Motive spricht, also wenn er über seine Radikalisierung spricht. Er hat ja offenbar damals in einem quasi manischen Tunnel, in so einer Fiebrigkeit sich Dutzende, Hunderte im Videos von islamistischen Terror-Attacken angeschaut. Und da ist sozusagen eine Radikalisierung entstanden. Und das beweint er. Was er nicht beweint, ist das Opfer.

[0:11:53]
Jörg Wagner: Das kann man alles sehen unter … auf YouTube unter „STRG_F“. Sie hörten eben den Redaktionsleiter dieser Redaktion, Dietmar Schiffermüller und auch vielen Dank an Prof. Christian Schertz, beide noch in der Leitung, für diese kurze Einschätzung aus der jeweils entsprechenden Perspektive. Dankeschön.








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