Lem, Stanisław

Stanisław Lem, 1966 | Foto: CC BY-SA 3.0 freundlich bereitgestellt von Wojciech Zemek, Sekretär von Stanisław Lem

Wer:
* Stanisław Lem, Schriftsteller (* 12.09.1921 – † 27.03.2006)
* Anita Wagner, Journalistin
Was: Interview am Rande einer Lem-Inszenierung am Deutschen Theater für Jugendstudio DT64
Wann: rec.: 11.09.1970, 20:24 Uhr
Wo: Berlin, Deutsches Theater, Garderobe



(wörtliches Transkript, Hörverständnisfehler vorbehalten)

[00:00:00]
Anita Wagner: Eins, zwei, drei, vier. Ja, hier meldet sich Anita von dem Raumschiff, ein Raumschiff, das sein Ziel noch nicht weiß. Ich weiß also nicht, wohin wir fliegen werden und wir sitzen … das heißt, Schriftsteller Lem und ich … wir sitzen zusammen in einem gemütlichen Zimmer hier im Raumschiff und jetzt Herr Lem, Stanisław Lem, können Sie mir nicht mehr entwischen. Jetzt haben Sie ein wenig Zeit, mir einige Fragen zu beantworten und vielleicht wissen Sie es, wohin wir fliegen.

[00:00:28]
Stanisław Lem: Also der Flug, das ist nur ein Experimentalflug, nicht wahr? Wir werden erst das Schiff mit großer Geschwindigkeit fliegen, wird es abgebremst und dann wird es einfach auf die Erde zurückkommen. (Summton) Nach einer … nach einer gewissen Zeit, nicht wahr?

[00:00:40] (Durchsage) „20:25 Uhr …

[00:00:41]
Stanisław Lem: Wir … wir werden …

[00:00:43] … 5 Minuten vor Beginn der Vorstellung … “

[00:00:44]
Stanisław Lem: Das sind Geräusche aus unserem Maschinenraum, nicht wahr? Die da, die wir da hören. Also, das ist ein Photonen-Schiff, nicht wahr? Und es wird sich ganz langsam der Lichtgeschwindigkeit nähern. Als es diese Geschwindigkeit fast also approximiert, wird die Zeit auf dem Deck sehr langsam für uns natürlich subjektiv … ganz normal weiterhin fließen, aber vom Standpunkte der Erde, wenn dort Jahre vergehen, werden wir nur Minuten vielleicht erleben. Also dann, nachdem wir, sagen wir, nach einigen Tagen auf die Erde zurückkommen, werden wir nicht das Jahr 1970, sondern vielleicht das Jahr 1990 erleben, was interessant sein kann.

[00:01:27]
Anita Wagner: Das heißt, wenn wir jetzt zurückkommen, dann werden meine Kollegen von DT64 gar nicht mehr jung genug sein, um DT64 machen zu können.

[00:01:36]
Stanisław Lem: Natürlich. Es ist eine Konsequenz der Relativitätstheorie und man kann über sie nicht hinweg. Das ist schon so ein Naturgesetz. Na, wenn Sie wollen, können wir natürlich ein bisschen früher den Weg nach Hause, nicht wahr, einschlagen, sodass wir früher zurück kommen.

[00:01:54]
Anita Wagner: Ja, darum möchte ich doch bitten.

[00:01:56]
Stanisław Lem: Also, wenn es Ihnen …

[00:01:57]
Anita Wagner: Das würden mir meine Kollegen sehr übel nehmen, wenn ich jung geblieben bin und sie sind schon wieder 20 Jahre älter geworden.

[00:02:01]
Stanisław Lem: Ja natürlich. Besonders, was die Frauen betrifft.

[00:02:03]
Anita Wagner: Ja.

[00:02:03]
Stanisław Lem: Das begreife ich so gut, dass wir in einigen Minuten bereits, also den Rückflug beginnen können. Wenn es Ihnen daran liegt, dann bin ich auch dafür.

[00:02:12]
Anita Wagner: Ja und Herr Lem, ich muss sagen, die utopische Wissenschaft ist doch eine sehr gefährliche Wissenschaft, nicht? Wenn sie so ausartet.

[00:02:19]
Stanisław Lem: Glauben Sie? Aber ich persönlich unternehme in meinem normalen Leben keine solchen Flüge, sondern beschreibe sie dann eben. Ich interessiere mich so für die sehr entfernte Zukunft, dass ich ja keine Zeit zum Fliegen habe. Ich meine zur Kosmonautik. Ich kann ja nicht fliegen. Muss man … Jemand muss ja auch diese Flüge beschreiben.

[00:02:38]
Anita Wagner: Das ist also Ihr erster Versuchsflug?

[00:02:41]
Stanisław Lem: Ja, also das ist … ja richtig. Das haben Sie richtig gesagt. Das ist … und vielleicht auch der letzte, weil ich ja dann, wie immer keine Zeit mehr haben werde, um fliegen zu können.

[00:02:53]
Anita Wagner: Hm, Herr Lem, Sie werden ja morgen Geburtstag haben …

[00:02:58]
Stanisław Lem: Aja, wirklich. Woher wissen Sie das? Ich glaubte, dass es mein Geheimnis ist. Tatsächlich.

[00:03:02]
Anita Wagner: Das ist kein Geheimnis. Es ist so wenig ein Geheimnis wie das Weltenall. Herr Lem, ich wollte Sie fragen, Sie sind ja nun mittlerweile schon einige Jährchen alt geworden. Wann haben Sie angefangen, utopische Romane zu lesen? Oder wann haben Sie überhaupt angefangen, utopisch zu denken, geschweige denn zu schreiben?

[00:03:20]
Stanisław Lem: Ich glaube, rund vor zwanzig Jahren, im Jahr 1950 habe ich meinen ersten Roman „Planet des Todes“ geschrieben. Also das ist schon eine lange, lange Zeit her.

[00:03:30]
Anita Wagner: Ja, aber überhaupt zu denken, utopisch zu denken. Wann haben Sie sich mit diesen Dingen zu beschäftigen begonnen?

[00:03:35]
Stanisław Lem: Es ist doch so, dass … ich war früher ein begeisterter Leser dieser Literatur. Aber es kam mir nicht in den Sinn, als ich ein, sagen wir, ein Schüler war, dass ich auch ein Schriftsteller werde. Daran glaubte ich nicht. Ich interessierte mich besonders für den Fußball damals. Also ich wusste nicht, dass ich solche Romane schreiben werde. Ich begann über diese Dinge zu denken, im Sinne, der schriftstellerischen Arbeit eben im Jahre … so um das Jahr 1950, denn das waren meine ersten Versuche in dieser Literaturart, nicht wahr. Das war noch ganz naiv, natürlich, aber das war eben der Anfang.

[00:04:09] (Summton)
Anita Wagner: Konnten Sie als Schüler gute Aufsätze schreiben?

[00:04:12] (Durchsage) „Ich darf zum Anfang bitten!“

[00:04:13]
Stanisław Lem: Oh ja. Ich meine im Polnischen, also Literatur, natürlich das schon. Ja, ja, ja. Ich hatte ganz gute Zeugnisse nach Hause gebracht.

[00:04:22]
Anita Wagner: Ja? Und haben Sie utopische Romane gelesen in Ihrer Freizeit?

[00:04:25]
Stanisław Lem: Oh ja, sehr viel von Jules Verne, von Herbert George Wells. Also hauptsächlich in dieser Zeit, also von … über 30 Jahren gab es praktisch keine anderen bekannten Autoren, nicht wahr. Obwohl ich auch den Kurd Laßwitz gelesen habe, aber bereits im Gymnasium, als ich Deutsch lernte, zu sprechen gelernt habe. Aber die Zahl der Autoren, die sich mit dieser Literatur beschäftigen, war sehr klein. Heute gibt es ja Hunderte und Hunderte solcher Autoren in der ganzen Welt.

[00:04:53]
Anita Wagner: Nur noch die letzte Frage. Was interessiert Sie so sehr an der Zukunft?

[00:04:57]
Stanisław Lem: Ach …

[00:04:57]
Anita Wagner: Sie könnten ja auch historische Romane schreiben.

[00:05:00]
Stanisław Lem: Ach nein, das, was bereits geschehen ist, das interessiert mich nicht so, als das, was noch geschehen kann. Und zwar, weil das Menschenleben so kurz ist, versuche ich immer über das Horizont des persönlichen Lebens, meine ich, weiter zu gucken, zu schauen, um mir vorzustellen, wie eben die weiter entfernte Zukunft sich gestalten wird. Also es ist die Neugierde, die mich dazu bewegt, solche Romane zu schreiben und über diese utopische Gattung nicht wahr, zu denken auch. Ich glaube, dass es auch am Anfang so war meiner Arbeit und auch heute ist es ganz so geblieben.

[00:05:36]
Anita Wagner: So, und jetzt haben wir ein Blinkzeichen bekommen, dass wir uns anschnallen müssen, denn unser Raumschiff tritt jetzt in die Erdatmosphäre ein. Also, ich muss leider Schluss machen. Bis dann! Alles Gute. Tschüss!








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